URBAN ART PHOTOGRAPHY

Es gibt Dinge, ohne die wäre Berlin nicht Berlin: Baugerüste, in den Himmel ragende fensterlose Brandwände, Freiflächen und ein weiter Blick - geballte Leerstellen einer unfertigen Stadt. Während sie geduldig auf die neuesten Versprechen stadtentwicklerischer Entwicklung warten, bieten sie eine gewaltige Spielwiese für die Spielwilligen dieser Stadt.

"URBAN ART PHOTOGRAPHY" dokumentiert jede (dieser) Äußerung(en) als ein unverwechselbares, einzigartiges Kunstwerk: Von den Gewollten, wie Sprühfarbe, die die Oberflächen Berlins bedeckt; Straßenkunst, die an ihrem Körper befestigt ist und der unermüdlichen Beseitigung von beidem – bis hin zu dem so nicht Beabsichtigten, wie absurder Stadtplanung und unbeachtetem Zerfall.

Die beständigen Veränderungen der Stadt werden am deutlichsten an den natürlichen wie menschgemachten Kräften sichtbar, die auf jede der Arbeiten einwirken: Neue Gebäude werden errichtet/ziehen sich in die Höhe, Papier zerreißt, Farben bleichen aus, Äußerungen ziehen weitere Äußerungen nach sich – und so entsteht vorrübergehende, nie abgeschlossene Kunst, die in ihrem Wesen Berlin selbst gleicht. Der Fotograf Jürgen Große hat über viele Jahre diese urbane Kunst in ihren unvermeidlichen Dialog mit Berlin festgehalten, archiviert und nun zusammen mit Michael Bonk herausgegeben.

"URBAN ART PHOTOGRAPHY" zeigt eine beindruckende Auswahl von Kunst und ihren Abenteuern im goldenen Zeitalter einer sich rapide entwickelnden/in Entwicklung befindlichen Stadt. Jede Arbeit ist mit Sorgfalt und mit Aufmerksamkeit für ihren Kontext (oder „und unter Berücksichtigung ihres Kontexts“) fotografiert und findet ihren eigenen Platz in diesem großformatigen Buch. Während Berlin sich seiner geplanten Form annähert, findet seine treibende und kurzlebige Kunst einen dauerhaften Ort in dieser umfassenden Sammlung.

Text: Polina Soloveichik

Autor: Jürgen Große
Editor: Michael Bonk
Zweisprachig, Deutsch/Englisch
Erschienen bei urban art info, Berlin 2008 216 Seiten, Farbaufnahmen, 29,5 x 32 cm, Hardcover
Vertrieb: Die Gestalten Verlag
25,00 EUR

Künstler: Jürgen Große
Ausstellung: URBAN ART PHOTOGRAPHY

Uap 10.
Uap 08.
Uap 06.
Uap 07.
Uap 05.
Uap 03.
Uap 02.
Uap 04.

Kommentare

Folgende Kommentare sind das Ergebnis der Auseinandersetzung verschiedener Künstler mit dem Fotomaterial (Downloads):

Thomas Bratzke - Der Unverschlinger
Jan Danebod - Berlin über alles!
Irati - Schnappschüsse aus dem Tagebuch
Kevin Kemter & Max Stocklosa
Markus Mai - Kleine Verse über Städte
SP-38 - Berlin art urbain : Berlin urbane Kunst
Matthias Wermke - Das sind alles „Zeichen“

Interview

Der folgende Dialog ist eine Montage aus Gesprächen zwischen Jürgen Große und Miachel Bonk, die zwischen dem 11. und 14. November 2007 kurz vor Drucklegung des Buches Urban Art Photography stattfanden.

Warum der Titel «URBAN ART PHOTOGRAPHY», ­obwohl du betonst, dass es eigentlich nicht um Fotografie geht?

Es geht auch um Fotografie, aber sie ist nur das letzte Glied in der Kette. Ich weiß auch nicht, ob ich heute überhaupt noch ohne Kamera losgehen würde. Es geht schon darum, Dinge festzuhalten. Aber eigentlich geht es um Freiheit, um das Gefühl unterwegs zu sein. Straßen abzulaufen, über Höfe, Freiflächen, in leerstehende Häuser, in Bauruinen. Und um das Gefühl, wenn ich etwas entdecke, was mir gefällt, was mich überrascht oder irritiert. Du glaubst gar nicht, was für Glücksmomente das sind, wenn ich eine Sache wie die Schuhe entdecke. Die Bilder dienen letztendlich auch dazu, zu erinnern, was ich jeden Tag sehe und Bezüge zwischen den Arbeiten herzustellen, die ich vielleicht zuerst nicht gesehen habe. Ich ziehe auch immer wieder ältere Fotos aus dem Archiv, wenn die Zeit dazu da ist. Mein halbes Leben steckt ja in diesen Archivkästen.

Als wir angefangen haben an dem Buch zu arbeiten, habe ich mir deine Bewegungen durch die Stadt viel ungezielter vorgestellt, lange nicht so systematisch wie sie in Wirklichkeit oft sind.

Natürlich schreibe ich mir Orte auf, die ich über einen langen Zeitraum beobachten will und fahre sie ganz gezielt an. Aber ich suche genauso auch immer wieder neue Straßen und laufe andere Wege. Vieles finde ich nur zufällig und selbst die Prozesse, die ich gezielt anfahre, sind für mich oft etwas Neues. Man hofft natürlich immer etwas zu entdecken, aber ich bin nicht enttäuscht, wenn ich nichts finde oder mich nichts inspiriert. Der eigentliche Anlass um rauszugehen ist rauszugehen. Früher bin ich gezielt los, um konkrete Arbeiten zu fotografieren – zuerst an der Berliner Mauer. So hat es angefangen.

Heute dokumentiere ich nicht mehr ausschließlich die Kunst,sondern auch die Kontexte und es entstehen immer mehr Serien, die ich dann teils über Jahre verfolge wie die Serie der Ecken. Inzwischen spiele ich sogar manchmal mit dem Gedanken Arbeiten weiterzuführen.

Hast du persönliche Favoriten?

Eigentlich nicht. Was mich begeistert, geht von figurativ bis abstrakt, von Konzeptkunst und Arbeiten, bei denen der Entstehungsprozess das eigentlich Spannende ist – bis hin zur Werbung.

Aber die konzeptuellen Arbeiten interessieren mich schon besonders: Interventionen wie die kleinen Schilder, die man, selbst wenn man dafür sensibilisiert ist, oft nur zufällig sieht, weil die Veränderungen so subtil sind; ich bin auch Jahre um den Moritzplatz gefahren und hab die Veränderung an den Vorfahrtsschildern nicht bemerkt, sie dann aber doch noch rechtzeitig gesehen, bevor sie wegen neuer Vorfahrtsregeln abgebaut wurden.

Oder Arbeiten wie der Holzcontainer, der wie ein Bausatz zusammengesteckt und verschraubt wurde: In den ersten Wochen füllte er sich nur langsam mit Straßenmüll. Erst Monate später kamen die Leute und haben Sperrmüll, Autoreifen, Möbel, Matratzen und Hausrat wie Kochtöpfe, Kleidung vorbeigebracht und reingeschmissen. Andere kletterten in den Container und holten die Sachen wieder raus und nahmen sie mit. Irgendwann wurden dann Kühlschränke und Waschmaschinen dazu gestellt, die zum Teil auch wieder mitgenommen wurden. Dieser Austausch, das Reingucken, das Reinklettern und Wühlen, das Bemalen und die Reparatur des Containers haben mich schon fasziniert. An einem Tag im Januar bin ich morgens noch vorbeigefahren, abends auf dem Nachhauseweg war er plötzlich weg. Die Stadt hatte ihn entsorgt. Ich hätte so gern noch ein letztes Foto vom Abbau gemacht.

Gibt es Dinge, die dich grundsätzlich nicht interessieren?

Was mir nicht gefällt sind die braven Sachen.

Was ist denn brav?

Glattes, plattes, dekoratives, ohne Ecken, ohne Kanten und ohne Bezug auf Örtlichkeit. Früher hatte ich auch keinen Bezug zu Arbeiten, die an schwer zugänglichen oder versteckten Orten waren, aber das hat sich im Laufe der Zeit durch die Begeisterung für bestimmte Arbeiten geändert. Man wird natürlich seltsam angeschaut, wenn man im dritten Hinterhof über irgendwelche Mauern klettert oder sich durch irgendeine Häuserlücke zwängt. Wenn ich in einen Hausflur gehe und mit dem Schlüssel ein Fenster aufmache, um die Arbeiten zu fotografieren, kann es passieren, dass jemand aus einem der oberen Stockwerke kommt und vorbeigeht ohne etwas zu sagen. Manchmal bleiben aber auch Leute stehen und fragen: Was machen sie da? Was fotografieren sie? Warum fotografieren sie das? Haben sie das gemacht?

Namenszüge auf den Stufen im Mauerpark als Farbflächen zu sehen und ein COST-tag dem Kapitel mit Zeichnungen zuzuordnen, entspricht ja nicht unbedingt dem Selbstverständnis der Urheber. Beziehst du ihre Absichten in deine eigene Sicht mit ein?

Dieses COST habe ich als Gemälde wahrgenommen, als ich es im Vorbeifahren aus dem Augenwinkel gesehen habe. Es sah für mich aus wie eine legale Arbeit. Dass es keine ist, hab ich erst gesehen, als ich 2 Tage später zurückgefahren bin. Als ich vor der Wand stand konnte ich es auch lesen, aber es bleibt für mich dennoch ein Gemälde. In der Nähe, am Savignyplatz, gibt es etwas von COST, in der gleichen Art, vielleicht sogar in der selben Nacht gemacht, das hab ich im Gegensatz zur anderen Arbeit als ‚tag‘ wahrgenommen. Die Bühne im Mauerpark hätte man genauso gut auch unter Landschaftsarchitektur einordnen oder einfach als einen schönen Ort sehen können. Du kannst da hingehen, dich auf die Bühne stellen und wenn du gut bist, kommen die Leute und setzen sich hin. Es ist eine von vielen Möglichkeiten, diesen Ort als Farbfläche zu sehen.

Wie wichtig ist es, dass die Dinge ohne Genehmigung passieren?

Auf mich wirken sie oft kraftvoller. Aber andererseits können auch genehmigte Dinge kraftvoll sein. Der CBS-Trauerzug da spielt man ja damit, etwas was immer illegal war, offiziell anzumelden. Letztendlich sind viele legale Kunstwerke, die ich fotografiert habe genau aus diesem Grund nicht im Buch: Weil man dafür eine Erlaubnis einholen oder Absprachen treffen muss. Die Möglichkeit zum freien Ausdruck ist mir in dem Fall wichtiger als Vollständigkeit. Ich kann dazu nur sagen, wenn ich Künstler wäre, würde ich mich so wenig wie möglich mit Leuten auseinandersetzen wollen, die meine Arbeiten ohne gute Gründe verändern, verzögern oder verhindern.

Die gehäkelten Pflanzen könnten auch legal sein, aber da würde der Aufwand einer Genehmigung in keinem Verhältnis zur Art der Arbeit stehen. Diese Arbeit gefährdet niemanden oder fällt jemandem auf den Kopf, trotzdem bräuchte es ein umständliches Verfahren bis man sie legal realisieren könnte. Außerdem müssen die legalen Installationen in der Regel wieder abgebaut werden, was ihnen die Möglichkeit nimmt, sich weiterzuentwickeln oder zu verwittern.

Wie gehst du mit der Zerstörung oder dem Entfernen von Kunst, die dir etwas bedeutet, um?

Von Arbeit zu Arbeit unterschiedlich. Manchmal find ich es schade, aber nur daraus entsteht etwas Neues. Ohne diese Veränderungen könnte ich keine Prozesse zeigen.

Ist es für dich als Sammler nicht schwer die Kunstwerke nicht besitzen zu können?

Ich besitze sie doch! Und jeder, der sie als Kunstwerk wahrnimmt besitzt sie auch. Selbst wenn die Arbeit weg ist habe ich ein Dokument und kann darauf zurückgreifen.

Die Leute werden oft erst wach, wenn ich dastehe und fotografiere, dann sehen sie sich den Ort genauer an. Heute Vormittag im Wedding, ein Junge, vielleicht 18, 19, der mich beim Fotografieren sieht: «Was fotografierst‘ denn da?» «Die Hausfassade» «Den Dreck?» «Die Farben»

Wäre schon schön, wenn diese Dinge als Kunst wahrgenommen und geschätzt werden – irgendwann mal.

Presse

BACKSPIN, Artikel von Bianca Ludewig, 7/8.08
GROOVE, Artikel von Florian Sievers, 6.08